Dienstag, 15. Mai 2012

Ein Märchen

Das traurige Märchen vom salzigen Tropfen



Es war einmal im riesigen Ozean ein salziger Tropfen. Als Kind hatte er sich einen Namen gewünscht. Aber es gab ja so viele Tropfen um ihn herum, und einige waren salzig wie er, noch mehr aber waren es nicht. Er wusste nicht mehr, warum und seit wann er salzig war, aber er erinnerte sich gut, wie ihn vor langer Zeit ein junger Schwimmer ausgespuckt hatte. "Ist das hier salzig!", hatte der gerufen und "Ih!" Seit jenem Tag hatte der Tropfen zu lesen begonnen im großen alten Buch von Mutter Natur, dessen Seiten nass und voll Tang waren. Endlich hatte er etwas gefunden, was ihn glücklich machte. Salziges Wasser, so hatte da gestanden, hält Schwimmer an der Oberfläche des Meeres. Nur wenn es zu viel gab vom Salz, dann würde aus dem Meer von Leben ein Totes Meer.
Von nun an suchte er die Nähe der felsigen Insel und dort die Schwimmer, die bei Sonnenuntergang ein letztes Bad im großen Ozean nahmen. Der kleine salzige Tropfen schob sich heimlich unter sie und war nun ein richtig stolzer Tropfen. Alle Schwimmer blieben an der Oberfläche. Keiner ging unter.
An einem Tag, an dem Wolken den Sonnenuntergang versteckten, tauchte der Tropfen das erste Mal unter eine Schwimmerin, die er später für sich seine kleine Nixe nannte. Wie war die keck: Lange, ganz lange hatte der salzige Tropfen gebraucht, um zu begreifen, dass sie mit Absicht unter die Oberfläche tauchte, um den lieblichen Gesang in ihren Ohrmuscheln zu vernehmen. Trotzdem schob sich der Tropfen weiter unter sie, um sie mit all seiner Kraft an die Oberfläche zu heben. Es konnte ja sein, sie schaffte es nicht allein und dann wäre seine Stunde gekommen. Manchmal blieb er noch einen kurzen Augenblick an ihrer Haut haften, wenn sie ihr Bad beendend längst wieder festen Grund an den Fußsohlen spürte. Er wusste es ja: Bevor sie das Ufer erreichte, schüttelte sie sich noch einmal kräftig. Damit fiel auch er zurück zwischen die vielen anderen Tropfen. Er war bereit, die Stunden zu warten, bis er wieder auf seine Nixe aufpassen musste. Also er hätte natürlich nicht müssen, aber er wollte müssen; also tat er es.
Eines Nachts, als der salzige Tropfen träumend in Ufernähe an der Oberfläche des Ozeans trieb, sah er, wie die Nixe am Strand die äußere ihrer zarten Häute zum Trocknen auf ein Gestell hängte. Wie sie da zu ihrer Hütte lief, ungeschützt durch die alltägliche Außenhaut, leuchtete sie heller als der an diesem Abend den Strand beobachtende Mond. Das machte den Alten ganz neidisch. Kaum war die Nixe in ihrer Hütte verschwunden, sprang er von seinem Himmelsplatz herunter, griff sich die trocknende Haut und leuchtete nun selbst viel heller, weil ihm ein dreister Raub gelungen. Der salzige Tropfen hatte zwar alles gesehen, doch er konnte nichts tun und eine Sprache war ihm nicht gegeben, der enthäuteten Nixe zu helfen.
Tagsüber verdeckte sie ihre nun so schrecklich empfindsamen Stellen durch künstliche Häute, die den kitzelnden Wind abhielten, die sengende Sonne und die Blicke der Männer der Insel. Abends aber, wenn der Wind und die Sonne und die meisten Männer bereits schliefen, legte die Nixe ihre falschen Häute ab und stieg wie gewohnt zum Bad in den Ozean. Sofort war der salzige Tropfen zur Stelle, schob sich unter seine Nixe, die ja nun, so meinte er, seines besonderen Schutzes bedurfte, indem er vielleicht schnell und fest zugriffe, sie an der Oberfläche zu halten.
Aber oh Schreck: Der Tropfen hatte die Unterhaut berührt und die Nixe schrie auf vor Schmerz. Wie das brannte! Das war bestimmt das Salz in dem salzigen Tropfen. Die gequälte Nixe rannte zum Strand zurück und blickte entsetzt zum Wasser. Dort würde sie nun also nicht mehr hineingehen können.
So sehr der kleine salzige Tropfen in der Nähe des Ufer durchs Wasser schwamm - was soll ein Tropfen im Ozean schon anderes tun, solange er salzig bleiben musste - er bekam seine Nixe nicht wieder zu Gesicht.  Da weinte er viele kleine salzige Tränen, dass der Ozean salzkrank zu niesen begann. Jammernd dachte der Tropfen darüber nach, ob und wann denn der Nixe eine neue Haut wüchse, damit er sie wieder beschützen könne. Aber das Buch der weisen Natur hatte die Stellen, an denen eine Antwort gestanden hatte, mit Schlick verwischt.
Der einsame salzige Tropfen wartete noch viele Nächte vergeblich unter dem schadenfrohen Grinsen des bösen Mondes. Eines Morgens beschloss er, seinem nutzlos gewordenen Leben ein Ende zu bereiten. Er hüpfte aus dem Meer heraus und ließ sich von sengenden Sonnenstrahlen, die mit liebestollen Windhosen spielten, in Dunst verwandeln. Er flog in einer Wolke zur Insel zurück, fror in der heimatfernen Höhe so sehr, dass er als Regentropfen auf der Hütte der Nixe landete. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, denn nun war der salzige Tropfen zwar ein Tropfen, aber kein salziger mehr.

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